„Was man zuerst erlernt hat, bleibt am längsten erhalten“: Alltag mit Demenz in der Seniorenbetreuung Schloss Schliestedt
Wenn Daten und Namen entfallen, bleibt manchmal noch das Lieblingsgericht von früher. 166.000 Menschen in Niedersachsen sind an Demenz erkrankt. Eine Erkrankung des Gehirns, die Gedächtnis und Denkvermögen beeinträchtigt. Auch das Essverhalten verändert sich: Das Essen wird vergessen, die Selbstversorgung nimmt ab und Kau- und Schluckbeschwerden treten auf. Bei Angehörigen und Pflegenden ist Geduld und Einfühlungsvermögen gefragt. Welche Rolle Lieblingsspeisen aus der Kindheit spielen und was im Umgang mit Demenzerkrankten hilfreich ist, erklärt Sabine Resch-Hoppstock, Einrichtungsleitung Seniorenbetreuung Schloss Schliestedt.
Wenn Mutter oder Vater den Pudding nicht mehr mit Zucker süßen, sondern mit Salz zubereiten, werden Angehörige stutzig. Die Diagnose Demenz wiegt schwer. Frau Resch-Hoppstock, wie können wir uns die Situation vorstellen, wenn Kinder merken, ihre Eltern verändern sich?
Eine dementielle Erkrankung betrifft immer das gesamte soziale System der betroffenen Person und deren Angehöriger. Die krankhafte Veränderung ist in den allermeisten Fällen ein schleichender Prozess. Die Betroffenen erhalten die Fassade aufrecht, sodass zunächst nur das unmittelbare Umfeld etwas wahrnimmt. Gerade in langjährigen Partnerschaften übernimmt der Partner oder die Partnerin immer mehr Tätigkeiten. Entferntere Angehörige oder Freunde reagieren auf Beschreibungen häufig mit Sätzen wie „Na, dass man mit zunehmendem Alter mal was vergisst oder verlegt ist doch ganz normal, das geht mir auch schon so!“ Erst wenn der Topf auf dem Herd vergessen wird oder die Spüle überläuft, weil der Wasserhahn nicht wieder geschlossen wird, dann sind alle alarmiert.
Es gibt Anzeichen, die auf eine dementielle Erkrankung hinweisen können, die ich hier gern aufzählen möchte. Diese Anzeichen ersetzen jedoch keine ärztliche Diagnose:
- Ein verändertes Gangbild, beispielsweise das Anheben des Knies bei einem Strich oder einer Fuge auf dem Fußboden. Menschen mit Demenz können häufig nicht zuordnen, ob es sich um eine Stufe oder eine Bodenmarkierung handelt und heben darum sicherheitshalber das Bein beim Gehen an, um nicht zu stürzen.
- Becher, Glas oder Tasse werden nicht leergetrunken. Erkrankte entwickeln häufig eine Hals-Steife, sodass sie den Kopf nicht mehr in den Nacken legen können. Dadurch können sie den letzten Schluck aus einem üblichen Trinkgefäß nicht austrinken.
- Fehlnutzung von vertrauten Gegenständen: z.B. mit der Fernsehfernbedienung telefonieren wollen oder umgekehrt mit dem Telefonmobilteil den Fernseher anschalten wollen.
- Nachfrage zu den Mahlzeiten „Was haben wir heute Mittag gegessen? Gibt´s heute keinen Kaffee?“
- Gegenstände, die gerade nicht zuzuordnen sind, einfach „verschwinden“ zu lassen: Topf mit Essensresten in den Schrank stellen, schmutzige Kleidung - insbesondere bei beginnender Inkontinenz - einfach wegpacken und nicht in die Wäsche geben.
Viele Demenzerkrankte leben daher in Senioreneinrichtungen oder in speziellen Demenz-WGs. Wie sieht ein Tag bei Ihnen in der Seniorenbetreuung Schloß Schliestedt aus?
Über 70 % der Bewohner*innen von Alten- und Pflegeheimen haben dementielle Veränderungen. Das ist aber nicht unbedingt der Grund für das Wohnen und Leben in einer Einrichtung. Für den Einzug in eine Einrichtung spielt der Grad der Demenz, die persönliche Situation und die Entscheidung der betroffenen Person und der Angehörigen eine große Rolle. Der Tagesablauf sieht nicht anders aus, als bei Menschen ohne diese Erkrankung. Sofern Unterstützung erforderlich ist, wird sie angeboten: z. B. beim Aufstehen, Toilettengang, Waschen, Anziehen oder am Esstisch. Am Vor- und Nachmittag gibt es therapeutische sowie freizeitgestaltende Angebote, sowohl in Gruppen als auch als Einzelangebot. Dazu gehören Sport, Aktivierungsangebote, Kultur, Ausflüge, Spaziergänge, Feste, Arztbesuche, Friseur, Fusspflege und vieles mehr. Die Mahlzeiten sind entsprechend in den Tagesablauf integriert und geben Struktur. In der Seniorenbetreuung Schloß Schliestedt werden alle Mahlzeiten frisch in der hauseigenen Küche vorbereitet und hergestellt. Die Bewohner*innen suchen selbst aus, was sie essen möchten und können die angebotenen Mahlzeiten z. T. auch vorher in Augenschein nehmen.
Mahlzeiten spielen also eine große Rolle in der Tagesstruktur einer an Demenz erkrankten Person. Wie können hier Lieblingsspeisen von früher eine Hilfestellung sein?
Eine „Faustregel“ lautet: „Was man zuerst erlernt hat, bleibt am längsten erhalten!“ Also sollten Lieblingsspeisen aus der Kindheit auf jeden Fall ausprobiert werden, sofern Angehörige oder die Betroffenen selbst befragt werden können. Häufig gibt es auch regionale Gerichte, die bekannt sind und Erinnerungen auslösen. In unserer Einrichtung haben wir einen selbst entworfenen Biographie-Bogen, um dessen Ausfüllen wir bei Einzug bitten. Speisen und Getränke und deren Gerüche sind häufig „Türöffner“, um über Dinge aus früherer Zeit ins Gespräch zu kommen. Persönliche Gegenstände wie Urlaubs-Souvenirs, Fotos und Bilder, Deko-Gegenstände oder Musik können vielleicht erstaunlich gut Erinnerungen freisetzen. Es kann dann sogar möglich werden, dass die Person gesprächsweise bis ins Hier & Jetzt begleitet wird.
Kartoffeln schälen oder Obst schneiden sind für die Personen häufig typische Haushaltstätigkeiten von früher. Ist das nun alles verloren?
Haushaltstätigkeiten sind aufgrund der mechanischen langjährigen Übung häufig - ähnlich wie oben beschrieben - „Türöffner“ zur früheren Lebenswelt der Betroffenen.
Demenz ist eine sehr individuelle Erkrankung, die sich bei den Bewohner*innen unterschiedlich ausprägt und andere Bedürfnisse hervorbringt. Darüber hinaus hängen an dieser Erkrankung Menschen mit unterschiedlichen Lebensverläufen, Erfahrungen und Hintergründen. Welche Herausforderungen ergeben sich daraus für Ihren Arbeitsalltag und wie gehen Sie damit emotional um?
Es gibt den Spruch: „Kennst du eine/n Demente/n, kennst Du eine/n Demente/n!“ In den Einrichtungen erleben wir so viele Menschen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten, dass eine Einordnung in Stadien kaum möglich ist. Es ist interessant, „Verschüttetes“ gemeinsam mit den Betroffenen „auszugraben“! Es kommen so viele lustige oder auch traurige Geschichten hervor, dass es auch für mich und die Mitarbeitenden immer wieder spannend und neu ist! Wichtig finde ich immer, Menschen mit Demenz achtsam, respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen. Die betroffenen Menschen haben Empathie und eine hohe Wahrnehmung auf der Gefühlsebene, auch wenn sie vielleicht nicht mehr wissen, was sie heute Mittag gegessen haben. Sie haben Humor, Spaß, manchmal auch Wut oder Verzweiflung, die sie direkt mit mir teilen. Diese Begegnungen sind für mich nach wie vor sehr bereichernd und immer wieder auch überraschend in der Tiefe der Anrührung, die mich selber betrifft. Geht es mir schlecht, so spiegelt gerade dieser Personenkreis das ungefiltert wieder. Diese Menschen sind in der Lage, mich durch ihre Anwesenheit und verbale oder nonverbale Äußerungen zu trösten oder auch einfach nur zu „erden“.
Die Entscheidung, Eltern in eine Senioreneinrichtung zu geben, fällt nicht leicht. Was möchten Sie Angehörigen mit auf den Weg geben, die eine solche Entscheidung treffen müssen?
Es gibt nicht „die Entscheidung, Eltern in eine Senioreneinrichtung zu geben“. Es handelt sich immer um einen bewussten „Einzug“, den der oder die Betroffene selbst treffen muss. Das gilt auch für Menschen mit Demenz. Altenpflegeeinrichtungen sind keine Krankenhäuser, in die Menschen „eingewiesen“ werden können, sondern Umzüge in eine andere Wohnform, deren Vor- und Nachteile abgewogen werden müssen. Gesetzlich ist der Wille (nicht das Wohl!) der oder des Betroffenen das grundlegende und wichtigste Kriterium. Kein Arzt, Richter oder Angehöriger darf gegen den Willen von Betroffenen über ihren/seinen Aufenthaltsort entscheiden. Insofern gibt es häufig Ratlosigkeit über die Abschätzung des Gefahrenpotentials von Angehörigen und in dieser Hinsicht hohen Beratungsbedarf, dem wir in den Einrichtungen gerecht werden können und müssen. Darüber hinaus gibt es in allen Kommunen öffentliche und wohlfahrtsverbandliche Angebote für betroffene Familiensysteme.
Demenz ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, auf die wir uns einzustellen haben! Sie ist nicht zu bekämpfen, sondern in den Alltag zu integrieren, sodass betroffene Menschen und ihre Familien gut und ohne Angst um ihre Liebsten damit leben können!
Liebe Frau Resch-Hoppstock, wir danken Ihnen für das Interview und den spannenden Einblick in ihren vielfältigen Arbeitsalltag!
Durch Erkrankungen wie Demenz, aber auch durch körperliche Veränderungen stellt der Körper im Alter andere Anforderungen an eine gesundheitsfördernde und nachhaltige Verpflegung. Um Informationen dazu niedersachsenweit zu transportieren, gibt es die Vernetzungsstelle Seniorenernährung Niedersachsen (DGE-Sektion). Mit kostenlosen Seminaren, Fachtagungen sowie Dialoggesprächen fördern die Mitarbeiterinnen der Vernetzungsstelle zudem den Austausch unter den verschiedensten Akteur*innen zum Thema „Ernährung im Alter“ mit all seinen Facetten. Das Angebot richtet sich von Senioreneinrichtungen über Caterer bis hin zu den Senior*innen selbst. Auf der Internetseite der Vernetzungsstelle finden sich allerhand Informationen zu Rezepten, der Gemeinschaftsverpflegung und anderen ernährungsrelevanten Aspekten. Für weitere Auskünfte wenden Sie sich gerne an die Mitarbeiterinnen der Vernetzungsstelle Seniorenernährung.